Heute früh öffnete ich den Spiegelschrank im Badezimmer, um Zahnbürste und Zahnpasta herauszuholen. Es dauerte etwa 10 Sekunden, bevor mir klar wurde, dass ich nicht vor meinem eigenen Spiegelschrank stand.
Ich schloss die Schranktür also wieder unverrichteter Dinge. Und dann fiel mir etwas auf: Ich hatte 10 Sekunden lang auf diverse Badutensilien gestarrt und das Einzige, das ich über diese wusste, war, dass meine Zahnputzsachen nicht dabei waren. Erstaunt versuchte ich mich an irgendein Detail zu erinnern. Vergeblich. Wieso war das so?
Ich hatte also diese Tür mit einer bestimmten Erwartungshaltung geöffnet. Das Einzige, das ich finden wollte, waren meine Zahnhygieneartikel. Und die einzige Information, die ich aus der Fülle möglicher Detail-Informationen aus dem Schrankinhalt mitgenommen hatte, war: Erwartung nicht erfüllt.
Ist das eigentlich immer so? Nehmen wir, wenn wir mit einer bestimmten Erwartungshaltung auf etwas (jemanden) zugehen, nur wahr, ob es (er) diese Erwartung erfüllt und lassen alle anderen möglichen Informationen unbeachtet? Und was entgeht uns dabei?
Sollte man deshalb versuchen, Erwartungshaltungen prinzipiell ausblenden, um so mehr bzw. Neues wahrzunehmen? Kann man das überhaupt? Und, um wieder zurückzukommen auf mein morgendliches Erlebnis: Ist es vielleicht manchmal auch sinnvoll, nur mit einer einzigen Frage an eine Fülle möglicher Details heranzugehen? Immerhin wollte ich ja gar nicht wissen, was in dem Schrank war.
Diese fokussierte Sichtweise macht aber auch in anderen Situationen durchaus Sinn: Bei wissenschaftlichen Arbeiten etwa sollte man die zentrale Fragestellung nicht aus den Augen verlieren, da man sich sonst hoffnungslos verzettelt. Und in einem Gespräch sollte man eine Weile beim Thema bzw. bei seinem Gegenüber bleiben können und nicht auf jede Nebensächlichkeit abdriften, die einem gerade durch den Kopf geht.
Der Tunnelblick hat also durchaus seine Berechtigung. Gelegentlich. Er macht aber auch klar, warum man selbst so oft den Erwartungen anderer nicht entspricht. Bei einer Bewerbung, einem Date oder in einer geselligen Runde, sucht das jeweilige Gegenüber oft nach ganz bestimmten Eigenschaften und hakt häufig nur ab, ob diese erfüllt werden oder eben nicht, um sich dann dem nächsten Kandidaten zu widmen. Die Fülle an hervorragenden, außergewöhnlichen, einzigartigen Vorzügen, die man sonst so zu bieten hätte, werden gar nicht erst wahrgenommen.
Mit der Erfahrung, dass die eigenen Vorzüge eben oft doch nicht die gesuchten sind, bin ich zum Glück nicht allein: Ich glaube, Lessing war es, der einmal in einem Brief an seinen Vater über seine Arbeit in einem Büro geschrieben hat: „Was hier von mir verlangt wird, entspricht nicht meinen Fähigkeiten. Und meine Fähigkeiten werden hier nicht verlangt.“
Tja. So ist das also mit den Erwartungshaltungen…